
Potosí. Mit einer Lage auf über 4000 m.ü.M. eine der höchstgelegensten Grossstädte der Welt. Schöne Bauten im Kolonialstil. Einerseits prägen charmante Gassen und Plätze das Stadtbild. Andererseits ist Potosí laut, schmutzig und wuselig. Es wird gelärmt und gehupt. Tags wie nachts. Die Menschen sind ausgesprochen hilfsbereit und freundlich - trotz der auf den ersten Blick chaotischen Schnelligkeit. Findet man die Unterkunft nicht, sind da sofort verschiedenste Helfer zur Stelle. Man wird weitergereicht, mit Tipps eingedeckt. Und dabei in der Stadt willkommen geheissen. Die Vermieterin der Unterkunft in einem alten Kolonialstilgebäude mit riesigem Innenhof inkl. Brunnen ist freundlich. Die Menschen auf dem Markt und in den Geschäften sind zuvorkommend und nett. Freuen sich über die kleinste Form des Kontakts, zeigen schnell ein Lächeln und lassen sich von der Fröhlichkeit der Kinder anstecken. Wir werden immer mal wieder beobachtet, jedoch auf sympathische Art. Ausländer hat es scheinbar wenige und die wenigen fallen offensichtlich auf. Mit der Besitzerin des einzigen vegetarischen Restaurants in Potosí kommen wir schnell ins Gespräch. Auch sie: zugewandt, freundlich und aufmerksam. Beispielsweise fällt ihr sofort auf, dass Miro mit trockenen Lippen kämpft und gibt uns Empfehlungen, wo man die besten Mittel gegen rissige Lippen kriegt. Weil nämlich fast alle Menschen in der Stadt früher oder später mal mit diesem Problem kämpfen. Auch die Einheimischen.

Im Zentrum von Potosí steht jedoch etwas ganz anderes als Lärm und nette Menschen. Nämlich der Kegelberg Cerro Rico, zu dessen Füssen die Stadt liegt. Der Name bedeutet soviel wie "reicher Berg". Der Cerro Rico ist seit vielen hundert Jahren Lieferant von Silber. Bereits die Inkas suchten nach dem glänzenden Gut. Die Spanier beanspruchten später den Berg für sich und liessen die indigene Bevölkerung unter miserablen Bedingungen Minenarbeit leisten. Um auf dem Weg an das wertvolle Silber zu gelangen und damit zu Reichtum zu kommen. So kam es, dass Potosí vor ca 500 Jahren eine der reichsten Städte der Welt war, gleichzusetzen mit Paris oder London.
Der Grossteil der Bevölkerung von Potosí lebt nach wie vor von der Minenarbeit. Obwohl es immer schwieriger wird, Silber zu finden. Die Arbeitsbedingungen sind unglaublich hart. Kein Tageslicht. Engste Gänge, in denen man teilweise nur kriechend vorwärts kommt. Temperaturen von bis zu 40 Grad in den Minengängen. Staubgetränkte Luft. Unzureichende Schutzausrüstung. Regelmässige Todesfälle. Entweder sterben die Menschen im Berg oder an den Folgen der Arbeit in demselben. Auch Kinderarbeit ist ein grosses Thema. Zwar ist diese offiziell verboten. Dennoch ist sie in den Minen allgegenwärtig und wird toleriert. Die jüngsten Minenarbeiter sind gerade mal 10 Jahre alt.
Der Cerro Rico wird inzwischen mit einem löchrigen Schweizer Käse verglichen - unsystematisch wurden über all die Jahrhunderte von überall her Gänge gegraben und Sprengungen getätigt. Einerseits durch offizielle Minenfirmen, andererseits durch die sogenannten Kollaborationen (Zusammenschlüsse von Minenarbeitern). Kartografie existiert keine - es weiss also niemand, wie es im Berginnern effektiv aussieht. Die Minengänge sind an vielen Stellen wenig bis unzureichend oder gar nicht gesichert. Potosí und der Silberberg stehen seit 2014 auf der roten Liste des gefährdeten Weltkulturerbes der UNESCO - aufgrund unkontrollierter Bergwerkaktivitäten. Der Mineralienabbau hat zudem grosse Auswirkungen auf das Ökosystem und die Landwirtschaft. Giftige Chemikalien haben den Pilcomayo-Fluss stark verunreinigt. Gemäss Schätzungen fliessen jährlich ca. 400'000 toxische Schlacke aus den Bergbaubetrieben rund um Potosí in das Gewässer. Das Wasser kann nicht mehr wie früher als Trinkwasser genutzt werden und auch der Anbau von Früchten und Gemüse entlang des Flusses ist fast unmöglich geworden.

Die Minen von Potosí sind ein Touristenmagnet - zahlreiche Anbieter locken mit einer halbtägigen Tour.
Vor dem eigentlichen Minenbesuch fahren alle Touristen zum "Miners Market". Dort können Geschenke für die Mineure gekauft werden. Neben Dingen wie Wasser, Süssgetränken, Zigaretten, Cocablättern und 96%igem Alkohol übrigens auch Dynamitstangen. Es ist wohl der einzige Ort auf der Welt, an welchem sowas von jeglichen Zivilpersonen legal erstanden werden kann.
Die Option eines Minenbesuchs regt FLAMM zum Denken an. Sollen wir uns ein realistisches Bild der Arbeitsbedingungen machen? Am eigenen Leib erfahren, wie es ist, in die Dunkelheit des Cerro Ricos einzutauchen, wie es sich anfühlt, unter den geschilderten Bedingungen tagtäglich für wenig Geld härteste Arbeit zu verrichten? Unterstützen wir damit aber nicht genau dieses so problematische System?
Marcel und Anou könnten sich trotz allem zunächst einen Minenbesuch vorstellen. Fabienne lässt das mulmige Gefühl jedoch nicht los, dass die Aussicht auf einen solchen Ausflug bei ihr auslöst. Sie recherchiert. Liest ganz viel. Und spätestens nach dem Bericht eines Ingenieurs, der die Gefahren eines solchen Besuchs beschreibt, bringt sie ihre Sorgen inkl. der gesammelten Informationen in einer FLAMM-Runde ein. Der Besuch ist danach für alle vom Tisch. Dafür haben wir aufgrund der Thematik spannende Diskussionen am Tisch, die noch tagelang nachhallen.
Wir verlassen Potosí tags darauf früher als geplant, da das M von FLAMM plötzlich Probleme mit der Höhe hat. Als wir aufs Geratewohl per Taxi Richtung Busterminal wollen (wir haben noch keine Tickets), dürfen wir ein letztes Mal ganz viel potosische Freundlichkeit geniessen. Der Taxifahrer ist bester Laune, war mal für 2 Jahre Strassenmusiker in Österreich und plaudert munter über seine Zeit in Europa. Er fragt gleichzeitig, wo wir hinwollen und übernimmt dann gleich mal ganz viel "Abreiseorganisation". Er bringt uns zur besten, nahegelegensten Haltestelle. Macht dem Busfahrer des bereits zur Abfahrt bereiten Buses klar, dass er warten soll. Und ab dann helfen sowieso alle, die grad da rumstehen. Wartende Menschen, die Ticketverkäuferin, die Dame, die an der Ecke Gebäck verkauft und auch jene, die auf dem Weg von A nach B zu sein scheint. Gepäck und Kinder werden über die vierspurige Strasse gelotst. Die Koffer von Wildfremden mit einem grossen Lächeln im Gesicht verladen. Und Schwupps ist FLAMM mit einem Dankeswinken Richtung Taxifahrer im Bus verschwunden. Der Blick auf die Uhr zeigt: Seit dem Verlassen der Unterkunft sind keine 15 Minuten vergangen.
Wir schauen beim Verlassen der Stadt nochmals nach links und rechts aus den Busfenstern. Und zum Cerro Rico. Dieser Berg und seine Geschichte hat bei uns trotz Kurzaufenthalt in Potosí vieles ausgelöst. Unsere Kinder haben wir ein paar Tage später gefragt, was ihnen von der Stadt in Erinnerung geblieben ist. Ihre Antworten darauf waren die folgenden:
Louan: "Mir hat an der Stadt nicht gefallen, dass sie so laut tönte. Gefallen hat mir der coole Innenhof mit grossem Brunnen in unserer Unterkunft. Und dass man dort auch Fussballspielen könnte! Minenarbeiter möchte ich auf keinen Fall werden. Sonst sterbe ich ja bereits in 40 Jahren. Ich möchte aber noch so 70-80 Jahre leben. "
Anou: "Mir ist vor allem dieses Gehupe von den Taxis, Autos, Bussen usw. geblieben, weil das bei uns nie so wäre. Ich kann zum Glück gar nicht Minenarbeiter werden, worüber ich sehr froh bin. Beim Einschlafen nervte das Gehupe ziemlich, aber so bald man eingeschlafen ist merkt man das gar nicht mehr. Ich finde es mega eindrücklich, dass schon Kinder, die minderjährig sind, in dieser Mine arbeiten müssen. Sie müssen bis zu 12 Stunden in dieser Mine arbeiten. Rund um den Cerro Rico (auch Menschenfresserberg genannt) arbeiten etwa 800 Minderjährige. Das finde ich mega krass. Es gibt viel zu viele giftige Arsendämpfe in dieser Mine, die den Körper der Kinder und der Erwachsenen schädigen. Der Staub in der Mine setzt sich in der Lunge der Minenarbeiter fest und somit sind ihre Chancen klein, dass sie lange leben."
Miro: "Ich finde es krass, das man für die Arbeiter in der Mine Dynamit oder Alkohol kaufen kann/soll, wenn man als Besucher dort ist. Wir sahen einen Film über den Cerro Rico und die Minen. Die Mineneingänge sind mega eng. Es hat viele gebrochene Balken und es ist dunkel und etwas gruselig. Aber es gibt auch lustige Sachen in der Mine, zum Beispiel ein Altar in Form eines Teufels. Der heisst Tio und soll die Minenarbeiter beschützen. Wenn man dort vorbei läuft muss man ihm eine Zigarette ins Maul stecken. Oder ihn mit Bier begiessen. Oder ihm Cocablätter geben. In der Stadt hat es mir gefallen, ausser dass es da so laut war."
Quellenhinweis: Die Fotos aus der Mine stammen von der Webseite des Anbieters, bei der Anou und Marcel die Tour zunächst gebucht, dann aber wieder storniert hatten.
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Sonja (Freitag, 31 Mai 2024 17:21)
Wow, danke fürs Mitnehmen in die Ambivalenz des Reisens. Aber Schön, dass ihr immer wieder so tolle Begegnungen mit den Menschen geniesst. Ich freue mich auf die Fortsetzung.
herzlich Sonja