Schon zuhause in der Schweiz sind die meisten Arztbesuche unerwünscht. Klar geht man mal ohne spezifischen Grund zum Routine-Check, aber in der Regel gehören Arztpraxen nicht gerade zu den Orten, die man freiwillig aufsucht. Noch viel mehr trifft das auf das Ausland zu. Hier besucht man die Frauen und Männer in weissen Kitteln wirklich nur, wenn man unbedingt muss. Leider mussten wir. Zweimal.
Zuerst trifft es Fabienne. Die Nüsse vom Markt sind lecker. Aber dieser doofe Fremdkörper wäre nicht nötig gewesen. Und na klar… Fabienne beisst auf diesen und ein Teil des Zahnes ist raus. Schon vor diesem Vorfall haben wir die tollen Fotos vor den Zahnarztpraxen Boliviens bewundert. Da werben die Zahnärzte häufig nicht mit weissen, modernen, sterilen Praxisräumen oder einem freundlichen Lächeln des sympathischen Zahnarztes, sondern mit Bildern von möglichst anspruchsvollen Operationen und aussichtslos scheinenden Fällen. Diese Bilder lösen bei uns aber nur Ekel und keine Bewunderung für die zahnärztliche Kompetenz aus.
Mit der Konsequenz, dass definitiv keiner von uns in Bolivien zum Zahnarzt will. Aber Fabienne muss halt doch, da sie davon ausgeht, dass früher oder später der Nerv reagiert. Es ist keine grosse Behandlung zu erwarten, aber die Wahl des Zahnarztes wird aus wohl nachvollziehbaren Gründen sorgfältig geplant. Nach längerer Recherche fällt die Entscheidung auf Dr. Carlos Zamuriano in Sucre.
Und es ist die richtige Wahl. Einmal im Behandlungssaal angekommen merkt man - zumindest als Laie - kaum Unterschiede zu einer Zahnarztpraxis in der Schweiz. Und der Zahnarzt macht einen Super-Job. Speditiv und günstig obendrauf. Das Einzige was seltsam scheint: nachdem der Praxisassistent für uns die Tür aufgeschlossen hat, schliesst er die Tür gleich hinter uns wieder zu. Dies als Vorsichtsmassnahme vor Überfällen, damit die hochwertigen Apparaturen und Instrumente nicht gestohlen werden können. Bei der Verabschiedung bittet der Zahnarzt Fabienne, ob sie nicht eine Rezension auf Google schreiben könne. Und das tut Fabienne, zum allerersten Mal in ihrem Leben.
Eine Woche später trifft es Marcel. Und zwar erwischt ihn tatsächlich die Höhenkrankheit. Dies, obwohl er bisher noch nirgends auf diesem Planeten ein Problem mit der Höhe hatte und FLAMM schon seit mehreren Wochen in der Höhe Argentiniens, Chiles und Boliviens unterwegs ist.
Es beginnt in Potosí auf gut 4’000m mit einer miserablen Nacht und mit dem ständigen Gefühl, zu wenig Luft zu kriegen. Eben erst eingenickt muss Marcel wenige Sekunden später wieder nach Luft schnappen, so dass an Schlaf nicht zu denken ist. FLAMM verlässt Potosí deshalb eine Nacht früher.
Der nächste Aufenthaltsort Sucre liegt dann deutlich tiefer auf 2’800m, was sich auch positiv auf die Nächte auswirkt. Im Wissen, dass wir für die nächsten 2 Monate wieder höher nächtigen werden, musste aber eine Lösung her. Dies in Form von getrockneten Coca-Blättern, da die in Chile gekauften Coca-Bonbons keine Wirkung zeigten. Aber halt... wird aus Coca-Blättern nicht Kokain hergestellt? Doch, genau so ist es. Die Blätter der Coca-Pflanze enthalten jedoch weniger als 1 Prozent des als Kokain bekannten Alkaloids. Mit Hilfe chemischer Prozesse wird es aus den Blättern des Coca-Strauches gewonnen. Das ist auch der Grund, weshalb Coca-Blätter in Europa verboten sind. Ein Mitbringsel aus Peru und Bolivien ist entsprechend keine gute Idee. Auch Spitzensportler sollten die Hände davon lassen, denn der Konsum von Coca-Blättern - in welcher Form auch immer - wird in Dopingtests nachgewiesen.
Aber Marcel braucht die Blätter ja, weil sie gegen die Höhenkrankheit helfen sollen, und nicht um bei FLAMM-Wanderungen mit den Kindern mithalten zu können. So kaufen wir auf dem offenen Markt in Sucre ein Säckchen Coca-Blätter für knapp einen Franken. Wir bezahlen natürlich in der lokalen Währung "Bolivianos", auch wenn der Verkäufer den Betrag lieber in Schweizer Geld bekommen hätte, da er Münzen aus aller Welt sammelt.
Die einfachste Verwendung der Blätter ist jene für das Nationalgetränk der Andenregionen Perus und Boliviens, den "Mate de Coca". Für die Zubereitung des Tees nimmt man ganz einfach einige der Blätter und übergiesst sie mit heissem Wasser. Und gibt noch etwas Zucker hinzu, da der Tee sonst ziemlich bitter schmeckt. Neben dem Mate de Coca werden die Blätter v.a. in Bolivien auch sehr gerne gekaut und in eine der beiden Wangen geschoben. Oft werden die Blätter dabei zusammen mit Pflanzenasche gekaut, was die Aufnahme des Wirkstoffes verbessern soll.
Fabienne und ich begnügen uns fast ausnahmslos mit dem Coca-Tee, den wir teils mehrfach täglich trinken. Die Wirkung? Keine Ahnung, eine wirkliche Veränderung haben wir nicht gespürt. Aber was heisst fast ausnahmslos? Weil Marcel einmal einen Selbstversuch mit den gekauten Blättern macht. Spannend. Zunge und Wange werden taub wie nach einer Spritze beim Zahnarzt. Da wird einem schon bewusst, dass diese Blätter nicht ganz ohne sind. Nicht nur deshalb entscheidet sich Marcel, beim Coca-Tee zu bleiben.
Aber trotz Coca in allen Varianten kommen in Copacabana am Titicaca-See die nächtlichen Atembeschwerden wieder zurück. Und da insgesamt 14 Tage an diesem auf 3'800m liegenden See geplant sind, möchte Marcel kein Risiko eingehen, und besucht das "Medical Center - Traveler's Disease Specialists" in Copacabana.
Überhaupt keine anderen Patienten sind da, die bolivianische Ärztin Dra. Silvia Alejandra Canqui Lopez hat sofort Zeit für Marcel. Aber trotz der komplett auf Touristen ausgerichteten Praxis mit englischem Namen, war da leider kein einziges Wort auf Englisch aus der Ärztin herauszuholen. Für den Alltag reicht das Spanisch von Marcel, aber bei medizinischen Behandlungen kommt dieses dann mehr als an den Anschlag.
Zuerst einmal werden Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung gemessen. Die Werte: nicht alarmierend, aber auch nicht wirklich gut. Als Sofortmassnahme eine Vitaminspritze. Diese sei wirklich sehr gut bei Symptomen der Höhenkrankheit und vollkommen natürlich. Weshalb genau, das konnte Marcel mit seinen Spanischkenntnissen nicht herausfinden. Aber was soll er sonst machen, als der Ärztin zu vertrauen.
Danach externe Sauerstoffzufuhr in einem speziell dafür eingerichteten Zimmer im Haus. Marcel macht es sich bequem im gemütlichen Bett, und wollte sich schon von seiner Familie für eine Stunde verabschieden. Da kommt die Ärztin mit 5x Fruchtsaft und Schokokeksen und erklärt den Kindern, wie der Netflix-Account bedient werden kann. So schauen wir zu fünft eine Tierdoku, während Marcel zusätzlichen Sauerstoff bekommt. Am Ende erhält Marcel Rezept und Medikamente für eine 3-Tages-Behandlung, und bezahlt. Dies mit dem Hinweis, dass es sich um eine einmalige Gebühr handelt. Die Kontrolle am Folgetag und allfällige weitere Konsultationen oder Medikamente seien kostenlos. Verabschiedet wird der Patient nicht mit Handschlag, sondern mit Küsschen auf die Wange und Umarmung. «Estilo Boliviano» halt.
Die Behandlung schlägt an und die nächsten 3 Nächte sind deutlich besser. Anschliessend kommt ein kleiner Rückfall, so dass Marcel inkl. Familie noch einmal bei Alejandra vorbeischaut. Es wird wieder alles gemessen und Marcel erhält Medikamente, um in der Nacht gegebenenfalls reagieren zu können. Wir reden über die Ärzteausbildung, -bezahlung und -situation in Bolivien und in der Schweiz, über das Leben und über Träume. Anschliessend an dieses Gespräch entsteht das Startbild dieses Blogs, ein Selfie mit Alejandra. Nicht auf unseren Wunsch, sie hatte danach gefragt. Das machen wir noch so gerne, denn auch für Marcel und den Rest der Familie waren diese Arztbesuche ein Erlebnis. Nicht nur sehr kompetent, sondern halt eben auch sympathisch und nahbar. Am Ende verabschieden wir uns alle mit Umarmungen und wünschen uns gegenseitig nur das Beste für die Zukunft.
Auch wenn Marcel gerne auf die Höhenkrankheit und Fabienne auf den rausgebissenen Zahn verzichtet hätte, die Erlebnisse rund um die Arztbesuche "Estilo Boliviano" bleiben für uns alle positiv in Erinnerung.

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Petra (Dienstag, 04 Juni 2024 19:08)
Reiseerlebnisse, wie man sie sich nicht unbedingt wünscht….wünsche euch fest, dass es das nun war!
Fränzi (Mittwoch, 05 Juni 2024 08:27)
Liebe Flamm‘s
Oje-solche Erlebnisse sind generell nicht schön.Aber ihr habt es ja super getroffen mit den 2 Orten&Arztpraxen!Wart ihr da einfach gerade an den richtigen Orten oder ist das Gesundheitssystem generell so gut ausgebaut?
Wie geht es dir Cello nun?Könnte nochmals einen Rückfall kommen oder sollte es nun „überstanden“sein?
Herzliche Grüsse aus Sizilien,Fränzi
sonja (Freitag, 21 Juni 2024 19:01)
wow, da geht was bei euch! bin froh, habt ihr es beide gut überstanden. und unvergesslich alleweil.
gute Gesundheit und ich freue mich auf den nächsten Blogeintrag!